Meine Heimat, Bingen am Rhein 🍷

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… hier habe ich von 1956 bis 1970, also im Alter von vier bis achtzehn Jahren meine Kindheit und Jugend verbracht. Vierzehn Jahre mehr oder weniger bewusst.

Welcher Ort ist eigentlich Heimat? Dort wo man seine Kindheit verbracht hat? Oder der Ort, an dem man am längsten gelebt hat?

Da ich bisher an keinem anderen Ort länger als vierzehn Jahre gelebt habe, erübrigt es sich, dies zu beantworten.

Ja, Bingen ist für mich meine Heimat!

Auch wenn ich zu niemandem mehr in Bingen und Umgebung Kontakt habe, empfinde ich heute noch, sieben Stunden beziehungsweise 700 km entfernt lebend, Bingen als meine Heimat und habe gelegentlich Sehnsucht, dort zu sein.

Hier bin ich in den evangelischen Kindergarten gegangen, habe hier in den Weinbergen gespielt, bin hier konfirmiert worden (Betonung liegt auf geworden), eingeschult worden und dann auf den altsprachlichen Zweig des Stefan-George-Gymnasiums geschickt worden. Bin hier wegen des Kurzschuljahres und einer mangelhaft in Religion(!), Latein und Griechisch sitzen “geblieben worden” und habe dann mit 18 Jahren und der Erlaubnis meiner Eltern Bingen verlassen und bin ins nahe Mainz gezogen. Damals war man erst mit 21 Jahren volljährig, dies zum Verständnis.

Bis auf die weniger guten Erinnerungen an das dunkle, bedrohlich (damals zumindest) wirkende Stefan-George-Gymnasium und das Kurzschuljahr mit sehr vielen Sitzenbleibern hatte ich eine schöne Kindheit und Jugend in Bingen.

Der Binger Brezelbub

Ich erinnere mich an das Binger Urgestein, den Brezelmann mit dem riesigen Korb-Bauchladen, der täglich gemächlich durch Bingen lief und seine Ware mit den Worten “Brezel, ‘Wecke’, ‘Haddekuche’ …” oder so ähnlich, anpries. Wenn mein Opa aus Bonn zu Besuch war, spendierte er mir immer einen ‘Haddekuche’, so ein rautenförmiges Teil mit großen Zuckerstückchen, Hagelzucker genannt, obendrauf. Perfekt für die Bildung von Karies. Aber damals gab es (leider?) noch nicht die gesundheitliche Aufklärung wie heute …

Das Winzerfest

Wenn Bingen mehr als zehn Tage feiert, dann ist Winzerfest. Das Binger Winzerfest zählt zu den längsten und größten Weinfesten am Rhein. Ich entsinne mich an den Rummelplatz unten am Rhein. Der Treffpunkt unter uns Kindern und Jugendlichen war immer am Auto-Scooter. Dort versuchte man als Junge, meist in kleinen Gruppen, Mädels zu imponieren und später als Halbwüchsige, für Petting” oder mehr aufzureißen”.

Und oben in der Stadt waren die Stände und Weinzelte, in denen ich meine ersten Erfahrungen mit Wein beziehungsweise Alkohol gemacht habe. Einmal hatte ich so einen in der Birne, dass mich mein Vater abholen musste. Alleine hätte ich es nicht mehr nach Hause geschafft.

Ich bei Weck und Worscht auf dem Winzerfest in den 60ern

Den Winzerfest-Umzug hingegen oder die Prozessionen der Katholiken fand ich wohl eher uninteressant. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass wir ihn uns angeschaut haben. Aber an den alljährlichen Martinsumzug entsinne ich mich noch sehr intensiv …

Laterne, Laterne …

“Das Fest des Hl. Martin wird in Bingen mit besonderer Hingabe gefeiert, ist Martin doch der Patron des Bistums, der Patron der Stadt Bingen und Patron der Gemeinde. Fester Bestandteil der Festivitäten ist der Martinsumzug, der, wenn es die Terminlage zulässt, am 10.11. stattfindet. Am Abend findet eine kleine Martinsfeier statt, z.B. in der Basilika.” Zitat: Basilikagemeinde Sankt Martin.

Mein Opa kam immer zum Martinsumzug aus Bonn angereist und ging mit mir und meiner Schwester und unseren Laternen zunächst auf den Spielplatz in den Rheinanlagen und dann zum Umzug. An der Spitze des Umzugs ritt der Heilige Sankt Martin auf einem mir jedes Mal respekteinflößendem Gaul, gefolgt von vielen Kindern mit leuchtenden Augen, leuchtenden Laternen in der einen Hand und einen Weckmann mit Rosinenaugen in der anderen sowie begleitenden Erwachsenen …

Der Fasching

Ich erinnere mich an die Faschingstage, wenn ich als Indianer verkleidet und das Gesicht mit Kakao eingerieben, mich wie Winnetou aus den Karl May-Büchern fühlte. Wenn ich beim Kinderfaschingsball in der “Alten Stadthalle” dann vom Spielen und Feiern mit den anderen Kindern schwitzte, schmeckte ich den Kakao auf den Lippen und teilweise schien die helle Haut eines Bleichgesichtes durch die sich langsam auflösende Kakaoschicht, die mir meine Mutter Stunden zuvor sorgsam aufgetragen hatte.

Auch die roten Zündblättchen, die man mit dem Fingernagel zum Knallen bringen konnte, hatten es uns Jungen damals sehr angetan, selbst wenn man Schmauchspuren an den Fingern davontrug.

Als ich älter war, fuhren wir immer am Rosenmontag in einer Clique mit dem Zug nach Mainz. Eine Fahrkarte kaufte damals kein Mensch an diesem besonderen Tag. Die Schaffner bekamen einen Schluck aus der Weinflasche und gut war’s. Sie kontrollierten am Rosenmontag nicht wirklich. Am Hauptbahnhof Mainz angekommen, befand man sich schon sofort mitten im Getümmel. Jeder umarmte jeden, alle hatten wir uns lieb und tranken aus ein und derselben Flasche. Aids oder gar Corona gab es damals noch nicht. Auch die Mädels ließen sich bereitwillig umarmen oder küssen, ohne dass man Angst haben musste, eine einzufangen. Ja, die Faschingszeit war auch die Zeit schneller Kontakte zum anderen Geschlecht.

Die Katholiken kamen am Aschermittwoch immer mit einen schwarzen Aschenkreuz auf der Stirn in die Schule. Das fand ich als Kind ziemlich cool.

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Die Disco “Casino Royal”

Der Ort, an dem ich als Jugendlicher “auf die Jagd” ging, aber nie so richtig Erfolg hatte. Die Mädchen, die ich gerne “gehabt” hätte, haben mich damals verschmäht. Oder ich hab’ mich zu blöd angestellt. Mein damaliger ganz großer Schwarm war die Tochter des Bäckers in Münster-Sarmsheim, ich glaube sie hieß Gerlinde. Sie war so hübsch,  dass ich mich nicht getraut habe. Nur einmal habe ich es gewagt, sie zum Tanzen aufzufordern. Doch nach dem ersten langsamen Tanz war es dann auch schon vorbei. Keine Chance!

 

Die Playlist “Royal Bingen” mit 22 Videos

Der Winter 1962/63

Ich erinnere mich an den strengsten Winter des Jahrhunderts, an den Winter 1963, als ich zehn Jahre alt war und die Nahe und sogar der Rhein zwischen Bingen und Rüdesheim total zugefroren waren. Ob man über den Rhein nach Rüdesheim gehen konnte oder ob das verboten war, daran kann ich mich nicht entsinnen. Allerdings an den langen Spaziergang auf der zugefrorenen Nahe Richtung Bad Kreuznach habe ich noch eine recht gute Erinnerung, weil fast ganz Bingen auf dem zugefrorenen Fluss unterwegs war und wir auch viele Schulkameraden mit Eltern trafen. Es war DAS Ereignis damals.

Allgemein waren die Winter damals noch Winter, selbst am Mittelrhein. Wir konnten jeden Winter die Schlitten aus dem Keller holen und waren bis zur Dämmerung draußen, hatten meist eiskalte Füße, rote Wangen, abgefrorene Finger und zitterten oft vor Kälte. In unserer Kindheit gab es nämlich noch keine Mikrofaser und Thermobekleidung. Aber Schlittenfahren gehörte zu den großen Abenteuern unserer Kindheit.

Und da fällt mir folgendes Erlebnis mit meiner Schwester ein:

Oberhalb der Rochusallee in Höhe des jetzigen Till-Eulenspiegel-Boulevards gab es eine Abfahrt auf einem Acker bis zu einem etwa drei Meter hohem Abgrund zur Rochusallee. Davor war ein kleiner Hügel, den man zum mit ausbremsen nutzte, um nicht auf die Rochusallee zu stürzen. Natürlich musste man je nach Geschwindigkeit auch schon vor dem Hügel den Schlitten gegebenenfalls abbremsen.

Das wusste meine zwei jahre jüngere Schwester offenbar nicht und raste mit voller Geschwindigkeit auf den Hügel zu, überquerte den Scheitelpunkt des Hügels und stürzte mitsamt des Schlittens bäuchlings auf ihm liegend über den drei Meter hohen Abgrund auf die Rochusallee. Eine Schneedecke hat sicherlich Schlimmeres verhindert, aber nach dem ersten Schreck, dass meine Schwester plötzlich hinter dem Hügel verschwunden war, hörte ich sie weinend rufen “Meine Backe, meine Backe…”

Als ich es geschafft hatte, die Mauer zur Rochusallee irgendwie herunter zu kommen, sah ich, dass meine Schwester an einer Wange geblutet hat. Ich nahm die Leine vom Schlitten und rannte mit ihr auf dem Schlitten den jetzigen Till-Eulenspiegel-Boulevard – damals war das ein Trampelpfad – bergab nach Hause. Wie schlimm die Verletzung genau war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.

Ich selbst hatte einen ähnlichen Schlttenunfall. An unserem Elternhaus gab es zwei recht steile, etwa fünfzehn Meter lange Abfahrten: Links zur Garage und rechts zum Keller. Diese Abfahrt war durch eine Mauer begrenzt. Ich komme also auf die geniale Idee, mich bäuchlings nur mit dem Oberkörper auf den Schlitten zu legen, um die ganze “Abfahrtsstrecke” nutzen zu können, nicht vorher abbremsen zu müssen, sondern einfach mit dem Schlitten gegen die Mauer zu fahren. Unglücklicherweise habe ich dabei nicht die Gesetze der Physik, insbesondere der g-Kraft, Aufprallkraft oder welche Kraft auch immer, berücksichtigt und habe mir beim Aufprall mein bestes Stück am Schlittenende gequetscht. Wie sich das anfühlt, können nur Geschlechtsgenossen mitempfinden. Und nein, “er” hat keine bleibenden Schäden davongetragen.

Es gab aber viel bessere Rodelstrecken: Eine war in den Weinbergen, südöslich, mehrere hundert Meter lang. Eine auf dem Rochusberg, eher schon eine Eisbahn mit gefährichen Kurven, nicht sehr lang, aber aufregend. Und die dritte war in guten Wintern mit viel Schnee die Dr.-Ebertsheim-Straße und die Veronastraße runter. Das war auch eine ganz schön lange Abfahrtsstrecke…

Hochwasser und Schlammlawinen

Ich kann mich auch daran erinnern, dass in meiner Kindheit in den 60ern in Bingen die Rheinanlagen immer wieder von Hochwasser überflutet waren. Das war für uns Kinder immer eine tolle Abwechslung, für die Betroffenen allerdings jedesmal ein Albtraum. Ich kann mich auch entsinnen, dass im Radio immer die Pegelstände durchgegeben wurden. Manchmal wurde der Rhein sogar für die Schifffahrt gesperrt. Von dem Elternhaus aus hatten wir einen freien Blick auf den Rhein.

Bei starken Regenfällen kamen manchmal “Schlammlawinen” von den Weinbergen herunter und im Keller in der Waschküche aus dem Gulli wieder hoch. Dann war der ganze Keller oft zehn Zentimeter voll von Schlamm und wir haben in Gummistiefeln diesen Schlamm wieder in Eimern heraustragen müssen. Das war jedesmal ein Riesen-Spektakel. Uns Kindern hat es aber Spaß gemacht, den Schlamm mit unseren Spielzeugschaufeln in unsere kleinen Eimerchen zu schaufeln und dann nach draußen zu befördern. Ja, des einen Freud ist bekanntlich des anderen Leid.

Getrennte Toiletten für Protestanten und Katholiken

Ich erinnere mich an getrennte Toiletten für Protestanten und Katholiken in der Christlichen Simultanschule (1959 bis 1963),

Wie das Wort “Christliche Simultanschule” schon sagt, war das eine Schule, in der Schüler unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit gemeinsam unterrichtet werden. Heute müsste man hinzufügen: Vorausgesetzt, sie sind Christen. Denn muslimische schulpflichtige Kinder schien es Anfang der sechziger Jahre noch nicht zu geben, zumindest waren in meiner Klasse in der Grundschule keine muslimischen Kinder der ersten Einwanderer damals aus der Türkei. Erst im Gymnasium hatte ich eine Klassenkameradin, die keiner Kirche angehörte und vom Unterricht befreit war.

Heute gar nicht mehr vorstellbar, aber in dieser Christlichen Simultanschule in Bingen gab es zu meiner Schulzeit tatsächlich getrennte Toiletten für Protestanten und Katholiken. Und natürlich Ohrfeigen satt, wie es sich für eine “anständige christliche Erziehung” gehört (Achtung: Ironie).

Das Schimpfwort “Bankert” habe ich auch noch in den Ohren. So wurden Kinder beschimpft, die unehelich gezeugt wurden, also nicht im Ehebett, sondern auf der Küchenbank. Deshalb Bankert.

Das war damals ein gesellschaftliches Tabu, genauso wie die Schwulen. Der § 175 des deutschen Strafgesetzbuches existierte vom 1. Januar 1872 bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Der Sohn unseres evangelischen Religionslehrers damals auf dem Stefan-Geoge-Gymnasium war beispielsweise schwul, rannte immer im Pelzmantel rum und bekannte sich zu seiner Neigung. Ein anderer junger Mann aus Bingen, mit dem ich gemeinsam in einer “Amnesty International”-Gruppe war, beging dagegen Suizid, weil er schwul war.

Weiter erinnere ich mich an meinen Konfirmationsunterricht, die Evangelische Johanniskirche, meine Blinddarmoperation im Heilig-Geist-Hospital, wie meine Schwester in den Rhein fiel, den Bolzplatz oberhalb des Stefan-George-Gymnasiums, den Tanz-Abschlussball in der Alten Stadthalle, wie ich nach einem LSD-Trip in den Katakomben in Mainz auf der Rückfahrt aus dem fahrenden Zug aussteigen wollte und im Hausflur weiße Mäuse sah, wie meine Eltern meine Schuhe versteckten, wenn ich Hausarrest hatte und ich barfuß zur Nachtwanderung loszog, wie ich von zu Hause abgehauen bin nach Konstanz, die Überschwemmungen in Bingen, mein Geigenuntericht, meine Nacht in Waldalgesheim und vieles mehr, das mir bestimmt beim täglichen Lesen der facebook-Gruppen “Mein Bingen” und “Binger Photographen” noch so einfällt. (Über diese Erinnerungen schreibe ich im Laufe der nächsten Zeit immer weiter. Also bei Interesse öfter mal reinschauen.)

Der “Matschweg”

Ich erinnere mich an den sogenannten “Matschweg”, in den 60ern eine Verbindung von der Prof.-Hoepke-Straße zur Rochusallee, nördlich angrenzend die Hildegardisschule und südlich angrenzende Weinberge. Dort pflückte ich mir oft eine Rebe Weintrauben und hatte immer ein schlechtes Gewissen dabei. Nicht, weil ich die gespritzten Trauben ungewaschen gegessen habe, sondern weil ich sie geklaut habe.

Wenn es geregnet hat oder bei Tauwetter war dieser Weg fast unbegehbar. Er war dann schlammig, matschig. Doch der andere Weg führte die Kurfürstenstrasse herunter, dann die Holzhauserstrasse am Sportplatz der Hildegardisschule vorbei und durch den Friedhof den Maria-Ward-Weg wieder hoch zur Rochusallee. Das war ein Umweg und dazu noch durch einen Friedhof. Das musste man als Kind nicht unbedingt haben. Dann lieber vorsichtig durch den Matsch gestapft.

Den Weg benutzte mein Vater auch zu seiner nahegelegenen Dienststelle, der damaligen “Staatlichen Rheinischen Ingenieurschule Bingen“(1964 bis 1971), heute Technische Hochschule (TH) Bingen. Wenn ich von der Schule schon zu Hause war, setzte ich mich im Sommer gerne zum Vokabellernen auf den Balkon und konnte von dort aus sehen, wenn mein Vater auf den Matschweg einbog und strammen Schrittes nach Hause kam.

Übrigens war er der jüngste Dozent an der Ingenierschule Bingen damals mit – ich glaube – 27 Jahren und erzählte uns als Kindern im ersten Jahr seiuner Tätigkeit dort, dass ihm Studenten die Tür zuhielten, weil sie aufgrund seines sehr jugendlichen Aussehens dachten, er sei auch Student.

 

Fachhochschule Bingen, Screenshot

Fachhochschule Bingen, Screenshot Alumni-Info 2014

Bei meinem Vater war schon damals einfach alles perfekt. Sogar die Straße, in der wir wohnten, die Professor-Hoepke-Str. war nach dem Gründer seines Arbeitsplatzes benannt. Später seine Ernennung zum Professor. Das nenne ich mal Punktlandung im Berufsleben.

Aber zurück zum Matschweg. Also, wenn mein Vater in Sicht war, gab es von mir Meldung an meine Mutter in die Küche und das Essen stand pünktlich zu Ankunft meines Vaters auf dem Tisch. Danach machte er immer ein Mittagsschläfchen auf der Couch im Wohnzimmer  bei  klassischer Musik und in der Stunde war das Wohnzimmer für uns Kinder tabu. Mein Vater lag in voller Montur auf der Couch. Nur die Schuhe hatte er immer ausgezogen und aufgrund der damaligen Nylonsocken roch es ein wenig nach Schweißfüßen nach dem Nickerchen. Manchmal musste er nachmittags auch zu einer Vorlesung. Ansonsten war er viel zu Hause und arbeitete dort, indem er Klausuren korrigierte und bewertete oder sich vorbereitete. Manchmal kamen auch Studenten zu uns nach Hause und gaben Arbeiten und kleine Geschenke ab. Sogar Inder, damals etwas Außergewöhnliches für mich …

Mein Kiez in Bingen in den 60ern rund um die Prof.-Hoepke-Str.7

Anmerkung zum Google Map-Screenshot: Warum sich die Prof.-Hoepke-Strasse bei Google Maps mit “ö” schreibt, verstehe ich nicht. Ich dachte, sie ist nach Hermann Hoepke, dem Gründer der technischen Hochschule Bingen benannt. Aber egal. Das rote Standortzeichen war mein Elternhaus in der Nummer 7. Und die Verlängerung der Prof.-Hoepke-Strasse nach links, also nach Westen, war der Matschweg. In dem Haus direkt nach der Kurfürstenstrasse nördlich wohne mein Freund Gerhard aus Österreich mit seinen Eltern.

Seine Mutter war Sportlehrerin bei den Englischen Fräulein in der direkt angrenzenden Hildegardisschule, wie ich erst später erfuhr. Und auch, wie streng es dort zuging. Das habe ich allerdings erst jetzt durch ehemalige Schülerinnen, die mir geschrieben haben, erfahren.

Ich ging oft an dem Internat vorbei und konnte die Sportlehrerin mit ihren Schülerinnen im Sommer beim Sportunterricht im Freien beobachten …

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Dort, wo damals der “Matschweg” begann, scheint jetzt alles bebaut zu sein.

Mein Freund Michael

In dem Haus mit der heutigen Bezeichnung “The Natural Beef + Wine Company” lebte damals mein Freund Michael E. mit seinen Eltern. Wir gaben uns immer per Taschenlampe Morsezeichen und bauten Raketen aus Aluminiumrohren mit Schwarzpulver gefüllt, das wir nach Neujahr aus nicht ganz abgebrannten Böllern herausholten.

Und ein Stück westlich gegenüber von dem Haus war damals die Schlittenabfahrt, an der meine Schwester verunglückte. Genau gegenüber war ein altes Haus mit einem Tor, das wir als Fußballtor zum Bolzen nutzten, mein Freund Michael und ich.

Unsere Nachbarin, Fräulein Reichmann

Neben uns wohnte die Malerin und Grafikerin Annelise Reichmann. Sie war damals um die 60 Jahre alt, ein sehr muskulöser, drahtiger Typ Frau mit auffallenden Adern an ihren Händen und Armen, wirklich sehr extrem. Als Kind dachte ich, dass diese hervortretenden Adern vom täglich stundenlangen Malen kommen.

Sie passte immer ein wenig auf uns auf, wenn unsere Eltern abends mal weg waren. Wenn wir Lärm machten klingelte sie, stand vor uns und forderte uns respekteinflößend zur Ruhe auf. “Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch” war immer ihr Spruch. Meist schauten wir verbotenerweise Fernsehen und machten das Gerät rechtzeitig aus, damit das Fernsehgerät bis zur Rückkehr der Eltern noch abkühlen konnte. Aber danach tobten wir manchmal herum, was dann das “strenge” Fräulein Reichmann auf den Plan rief.

Zu Ostern bemalte sie immer Eier. Das waren wahre Kunstwerke.

Sie war auch Kunst-Dozentin an der Werkkunstschule Wiesbaden (Quelle: regionageschichte.net).

Gegenüber von meinem Elternhaus befand sich ein Weinberg, der glaube ich einem Bauern namens Marx oder Marxen gehörte. Von ihm hatte sie ein etwa hundert qm großes Stück innerhalb des Weinberges, direkt an der Straße gegenüber dem Haus bekommen, das sie als Garten bewirtschaftete. Das war ein richtiges Kleinod, dieser Garten.

Übrigens hieß es damals, dass man ein Quadratmeter Grund und Boden für 100 Eier bekommt. Das habe ich mir bis heute gemerkt und nochmal verifiziert. Tatsächlich war der Eier-Preis in den 60ern etwa zwanzig Pfennig und der Grundstückspreis etwa 18 bis 20 DM/qm.

Das Wasser schleppte sie immer in Gießkannen vom Keller des Wohnhauses zum Garten und ich beobachtete sie oft vom Balkon dabei, während ich Latein-Vokabeln büffelte. Dabei fielen mir immer ihre muskulösen Arme mit ausgeprägten Adern, die kreuz und quer über Hände und Arme verliefen, ins Auge und faszinierten mich schon als zwölf, dreizehnjährigen außerordentlich.

Ja, irgendwie ziehen sich Adern wie ein roter Faden durch mein Leben. Damals Fräulein Reichmann und meine Sportlehrerin Frau Kröger, später als Schönheitsideal bei Frauen und heute meine verkalkten Adern als Ergebnis meines ungesunden und stressigen Lebenswandels als Freelancer. So, diese kleine Geschichte von Fräulein Reichmann wollte ich dir nicht vorenthalten.

Die Geschäfte damals

Ich erinnere mich an den Lebensmittelladen “Fichenich”, das “Cafe Kimmich” in der Vorstadtstraße 2, das Schreibwarengeschäft “Erich Mahn” in der Schmittstraße 31, Uhrmeister und Juwelier “Gisch” in der Rathausstraß2 25, “Brillen-Burlein” in der Vorstadt 19, “Hilpert-Moden, Schreibmaschinen “August Würth” in der Rathausstraße 16 und in der Amtsstraße 13, Schreibwaren “Helmut Hossbach in der Rochusstraße 17, “Cafe Böse” in der Rochusstraße (der Sohn war Weltmeister mit dem Ruderachter), Bekleidungshaus “Willi Heil” in der Schmittstraße 15, Buchhandlung “K.W. May” in der Kapuzinerstraße 5, Schreibwarengeschäft “Pekarek” in der Schmittstraße 36, Drogerie und Foto-Kühn (Tochter Claudia war in der Grundschule in der selben Klasse und ihre Mutter fuhr einen Karmann Ghia Cabrio)), das Modehaus Sinn und natürlich …

Das “Café Röthgen”

Hier verbrachten wir Freistunden oder trafen uns nach der Schule auf einen “Spezi”, ein Mixgetränk aus Cola und Sinalco …

Meinen Führerschein habe ich auch in Bingen gemacht, als ich achtzehn Jahre alt war und war bald stolzer Besitzer eines VW Käfer. Den mit der Nase als Nummernschildbeleuchtung. Vorher übte mein Vater mit mir auf landwirtschaftlichen Wegen in den umliegenden Weinbergen, ein Gefühl für das Autofahren zu bekommen. Daran erinnere ich mich heute noch sehr gerne.

Mein erstes Auto, muss 1970 oder 1971 gewesen sein, Bingen am Rhein, Prof.-Hoepcke-Strasse, Elternhaus

Das Kino “Casino”

Das Kino “Casino” und die Kneipe “Casino Stube” waren in der Amtsstraße, dort wo heute das City-Center steht, habe ich in einer Facebook-Gruppe erfahren (Danke!). Es lag etwas von der Straße zurückversetzt und ich schaute als Heranwachsender gerne die Bilder der Filme in den Schaukästen an. Auch beim Kino in der Mainzer Straße, wo die Schaukästen in einem Durchgang befestigt waren. Im Kino “Casino” wurden ab 1967 auch die ersten Aufklärungsfilme von Oswald Kolle und der Aufklärungsfilm “Helga” gespielt. Ich schlich als Heranwachsender immer gerne um die Schaukästen herum und betrachtete mir die Bilder. Als ich dann 1968 sechzehn Jahre alt wurde, schaute ich mir Russ Meyer’s Kinofilm “Die Satansweiber von Tittfield” an. Die Bilder in den Schaukästen zu diesem Film faszinierten mich einfach.

Brötchenbeutel, Schulkakao, Schnürsenkel und Poesiealbum

Ich erinnere mich an den Brötchenbeutel, den meine Mutter immer zum Küchenfenster herausgehängt hat und den der Sohn des Bäckers Diefenbach regelmäßig frühmorgens befüllte. Er kam immer -glaube ich – mit einem kleinen roten Fiat 500. Das Geld, das ich für den täglichen Schulkakao mitbekam, investierte ich beim Bäcker Diefenbach in der Schloßbergstraße meist in Lakritzschnecken, auch Schnürsenkel genannt, die ich dann genüßlich während des Unterrichtes verzehrte.

Meine Schulbrote, die ich von meiner Mutter mitbekam, brachte ich meist wieder nach Hause und versteckte diese in der Sitzbank an unserer Essecke. Es dauerte Monate, bis diese entdeckt wurden. Was da dann los war, daran entsinne ich mich nicht mehr. Jedenfalls war das Versteck nach der Entdeckung durch meine Mutter “verbraucht” und so wanderten die Schulbrote nun in den Papierkorb auf dem Schulhof. Irgendwann erwischte mich eine Lehrerin dabei und zog mich am Ohr hinter sich her. Ob es dann als Zugabe noch eine Ohrfeige gab, kann ich mich bei der Vielzahl der empfangenen Backpfeifen in dem Fall nicht mehr erinnern, aber wahrscheinlich hat es wie so oft geklatscht. Und das wäre ja auch tatsächlich in diesem Fall gerechtfertigt gewesen, in der Nachkriegszeit damals, als im Krieg viele Menschen gehungert haben. Meine Eltern ja auch.

Ich glaube, meine Eltern wurden deshalb zur Schule zitiert, aber sie schickten meistens meine Großmutter, eine großgewachsene, hübsche und selbstbewusste Frau, die solche Dinge regelte. So auch, als ich das Poesiealbum von Claudia Kühn, das sie mir zum Hineinschreiben mit nach Hause gab, durch Kritzeleien verunstaltete.

Ich weiß nicht, was mich da geritten hat. Claudia war immer so nett zu mir und ich mochte sie auch. Ihre Eltern hatten die Dogerie und Fotoentwicklung in Bingen und Claudia’s Mutter traf sich gelegentlich auch mit meiner Mutter, wir waren also öfter mal zusammen, auch zum Spazierengehen in den Weinbergen. Dort versuchte ich sogar Claudia zu imponieren, indem ich durch Brennnesselbüsche lief ohne Rücksicht darauf, dass meine Beine danach vie Feuer brannten.

Es ist mir heute unverständlich, warum ich ihr Poesiealbum so behandelt habe. Aber die Erinnerung ist nach 60 Jahren auch ziemlich schwach. Ich weiß nur noch genau, dass meine Großmutter in dieser Angelegenheit zu einem Gespräch in die Schule marschierte und mir dann eine Standpauke hielt. Meine Eltern selbst haben mich irgendwie nicht, unzureichend oder falsch erzogen, finde ich im Nachhinein. Für das spätere Leben haben sie mir nichts mitgegeben. Das musste ich alles durch eigene Erfahrungen lernen.

Das Heilig-Geist-Hospital

Ich glaube, ich war so etwa fünf oder sechs Jahre alt, als mir im Binger HGH mein Blinddarm entfernt wurde. Ich habe kaum Erinnerungen an den Krankenhausaufenthalt. Nur, dass ich wie durch einen Schleier meine Eltern gesehen habe, als ich nach der OP aufwachte und an das schmerzhafte Ziehen der Fäden vor der Entlassung. Ich habe auch noch den Geruch der Infektionsmittel in der Nase. Der Krankenhausaufenthalt in der damaligen Zeit war ja länger als heutzutage, wo man schon nach zwei, drei Tagen entlassen wird. Mir kam der Aufenthalt nach der Operation jedenfalls wie eine Ewigkeit vor.

Ein paar Jahre später hatte mein Vater mal einen gefährlichen Blinddarmdurchbruch, und zwar prompt nachdem er aus der Barmer Ersatzkrankenkasse ausgetreten war. Ich kann mich an heftige Diskussionen zuhause zwischen meinem Vater und meiner Mutter über diesen Austritt erinnern, denn meine Mutter und wir beiden Kinder waren ja auch davon betroffen und dass er es irgendwie geschafft hat, wieder Mitglied in der Barmer zu werden.

Wenn du diesen Artikel gelesen hast, könnte dich auch mein Blogartikel “Mein Vater, der Professor” oder “Das Freibad in den 60ern” interessieren.

Wenn du eine Vorstellung darüber haben möchtest, wie die 60er Jahre waren, kann ich dir den Artikel des SPIEGEL sehr empfehlen. Besser kann man dieses Jahrzehnt nicht beschreiben.

 

Ich mit meiner Schwester im Schwimmbad Bingen-Büdesheim

Der Witz

Ach ja und den Witz kennt wohl jeder Binger und jede Bingerin:

Eine Schulklasse macht einen Schiffsausflug auf dem Rhein.

Die Lehrerin erklärt den Kindern einige Sehenswürdigkeiten.

“Wenn ihr nach rechts guckt, dann seht ihr das Binger Loch …
Und gleich zeig’ ich euch dann Mainz.”

Links:

NEU: Facebook-Gruppe “Mein Bingen”

NEU: Facebook-Gruppe “Binger Photographen”

NEU: Meine Google-Maps-Ansicht von Bingen

NEU: Zur Zeit einzige Webcam von Bingen

NEU: Mary Roos, “die Valente vom Mäuseturm”

Homepage der Stadt Bingen

Wandel des Stadtbildes von Bingen

Homepage “Kaltnaggisch”

Geschichte des Stefan-George-Gymnasiums

Hildegardis-Schülerinnen auf Zeitreise

Konny backt Haddekuche

Glühweinstände mitten auf dem Rhein

Wikipedia: Winter 1962/63 in Europa

Eierpreise von 1900 – 1984

Video Galerie

Meine Jugendzeitung Dialoge 1970

 

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4 Antworten

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