Mein Vater, der Professor

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Ich mit meinem Vater in Rimini, Anfang der 60er

Heute ist er wohl 94 Jahre alt geworden. Zuletzt habe ich ihn 1982, vor 41 Jahren gesehen, meinen Vater, den Professor. Oder sollte ich besser sagen: Meinen Erzeuger?

Unsere Trix-Eisenbahn

Nein, das wäre ungerecht, ihn nur als den Erzeuger zu degradieren. Denn ich erinnere mich auch an schöne Stunden als Kind und Jugendlicher mit ihm. Als wir immer mit meiner (oder war es seine?) elektrischen Eisenbahn gespielt haben. Sie wurde jedes Jahr zu meinem Geburtstag auf einer etwa zwei mal drei Meter großen Platte im Foyer aufgebaut und blieb dort bis Mitte Januar.

Noch heute habe ich diesen ganz bestimmten, aber schwer zu beschreibenden Geruch von Trafo, Öl und Metall in der Nase. Ich glaube, man roch irgendwie sogar den Strom. Meinem Vater machte das Bauen und Spielen mit der Modelleisenbahn mindestens genauso viel Spaß wie mir und meinen Freunden, auch wenn es “nur” eine Trix und nicht die teurere Märklin war. Gab es schon damals, diese Denke. Schlimm.

Rimini

Der sicherlich für mich schönste Urlaub und die intensivste Zeit mit meinem Vater, an die ich mich erinnern kann, war der Urlaub in Rimini, an der italienischen Adria.

Das war Anfang der 60er, ich war noch in der Grundschule und wir hatten damals einen VW Käfer, den mit dem geteilten Rückfenster und in dem einem als Kind immer schlecht wurde, weil es so nach Benzin roch. Meine Schwester musste bei den Großeltern bleiben. Warum, kann ich heute nicht mehr nachvollziehen. Vielleicht, weil sie noch nicht schwimmen könnte. Sie war ja zwei Jahre jünger als ich.

Aber wenn ich mich noch recht entsinne, war ich hinten auf der Rückbank auch ganz schön eingeklemmt zwischen Gepäck, das in den kleinen Kofferraum vorne beim VW nicht hinein passte. Sogar der Fußraum war voll Gepäck, nur eine kleine Stelle für meine Beine war noch frei. Meine Schwester hätte da eigentlich auch gar keinen Platz mehr gehabt, wenn ich heute so darüber nachdenke.

Schwimmen konnte ich ja schon und so bin ich immer mit meinem Vater zu einer der Molen, die dem Strand von Rimini vorgelagert sind, geschwommen. Manchmal sind wir auch mit einem Tretboot zur Mole gefahren. Mein Vater hatte mir eine Angel gebastelt und als Köder haben wir Muschelfleisch genommen. Und tatsächlich hat auch schnell ein Fisch angebissen.

Ich glaube, damit hatten wir beide nicht gerechnet und mein Vater nahm den Fisch vorsichtig vom Haken und entließ ihn wieder in die Freiheit.

Es gab nicht viele Momente, in denen ich mich meinem Vater so nah fühlte wie damals in Rimini. Er war auch eher der Typ, der körperlichen Kontakt nicht unbedingt gesucht hat. Also Küsschen und Schmusen war nicht so sein Ding. Und wenn ich jetzt so zurückdenke, kann ich mich auch nicht entsinnen, dass meine Mutter mich regelmäßig in den Arm genommen und liebkost hat, obwohl sie das sicherlich manchmal auch getan hat.

Doch zurück nach Rimini, der Geburtsstadt von Frederico Fellini, Teutonen Grill in den 60ern genannt und heute Wochenendausflugsziel reicher Russen. Ich durfte ja die lauen Abende bis in die Nacht mit meinen Eltern verbringen, mit ihnen durch die Altstadt schlendern, Gelato lutschen, Bars und Cafés besuchen und bis nach Mitternacht dort draußen sitzen und mich wie ein kleiner Italiener fühlen.

Ach ja, ich entsinne mich noch an solche Fahrräder mit Dach für vier Personen, Rei in der Tube, das wir mitgenommen hatten und an unzählige Fledermäuse, die man spätabends sah oder eher hörte, wenn sie ihre sogenannten Soziallaute abgaben. Nicht zu verwechseln mit den Ultraschalllauten.

Wangen am Bodensee

Eine besonders schöne Erinnerung habe ich an den Urlaub mit meinen Eltern und meiner Schwester in Wangen am Untersee ( Bodensee) 1966. Da war ich 13 und meine Schwester 11 Jahre alt. Ich kann mir heute allerdings gar nicht vorstellen, wie ein großes Schlauchboot mit zwei Sitzen und zwei schweren Holzpaddeln und das ganze Gepäck für 4 Personen in einen VW Käfer gepasst hat. Und einen Dachgepäckträger hatten wir ja auch nicht, wie man auf dem Foto sieht.

Meine Schwester vor dem Käfer und der Ferienwohnung in Wangen am Untersee

Bingen am Rhein

Wenn mein Vater mittags oder nachmittags von den Vorlesungen an der Technischen Hochschule Bingen kam, hatte ich meist schon Schulschluß und setzte mich bei gutem Wetter auf den Balkon, um lateinische oder alt-grieschiche Vokabeln zu lernen. Dort hatte ich einen Blick auf den Südhang der Weinberge unterhalb der Rochusallee und Richtung der Hildedardisschule. Da verlief der sogenannte “Matschweg”, den mein Vater auch als Abkürzung – wie wir als Schulweg nahmen -, und ich konnte ihn immer schon von weitem ankommen sehen. Zur TH war es noch kürzer als zum Stefan-George-Gymnasium.

Meist haben wir gemeinsam Mittag gegessen und dann hat sich mein Vater auf die Couch gelegt und von seinem Uher-Tonbandgerät klassische Musik gehört. Den Geruch seiner Nylonsocken habe ich heute noch in der Nase. Aber eine Stunde war das Wohnzimmer dann tabu. Wenn er nicht da war, durfte ich sein Tonbandgerät auch benutzen, mit eigenen Bändern natürlich, um “meine Musik” aufzunehmen: Uriah Heep, Pink Floyd, Santana, in der Art. Das war schwieriger aufzunehmen als klassische Musik, weil bei diesen Songs immer vom Moderator reingesprochen wurde. Bei klassischer Musik selttsamerweise niemals. Die wurde am Stück bis ans bittere Ende durchgespielt.

Einmal hatte ich wegen der Lautstärke meiner Musik Streit mit meinem Vater. In einem kleinen Wortgefecht sagte ich zu ihm “Du Blödmann.” Da hat er mir eine Ohrfeige verpasst. An die entsinne ich mich ganz genau, denn es war die einzige, die ich von meinen Eltern erhalten habe. Dafür aber umso mehr in der Schule. Aber auch da erinnere ich mich an jede einzelne, als ob es gestern gewesen ist. Diese Ohrfeigen sind unauslöschbar in mein Gedächtnis eingebrannt.

Mehr über Bingen in einem anderen Blogartikel.

Tabuthema Krieg

Sehr genau entsinne ich mich auch an die extrem kleine Schrift meines Vaters und warum er so klein geschrieben hat: In der Zeit, als er studiert hat, war das Papier knapp und er musste sich sogar auf Klopapier Aufzeichnungen bei Vorlesungen machen. So hat er mir das mal erklärt. Und dass er eigentlich Medizin studieren wollte, aber beim Sezieren in einer forensischen Vorlesung sei ihm schlecht geworden und er hat das Studienfach gewechselt. Das habe ich noch aus seinen Erzählungen in Erinnerung. Und dass er mit 16 Jahren Flakhelfer war. Ansonsten wurde weder zu Hause noch in der Schule über den Krieg gesprochen. Das war irgendwie ein Tabuthema.

Die Namen seiner Professoren-Kollegen habe ich auch noch alle im Kopf: Teubner, Jacobi, Berg, Prätorius, Heim, Sittig … Sie waren allesamt älter als mein Vater. Er war damals der jüngste Professor, glaube ich. In Bingen auf jeden Fall. Die Studenten haben ihm teilweise Streiche gespielt, weil sie dachten, er sei einer Ihresgleichen, auch Student.

Führerschein

Kurz bevor ich 18 wurde und den Führerschein machen konnte, hat mein Vater mir auf landwirtschaftlichen Wegen in den Weinbergen erlaubt, in seinem Beisein mit seinem Auto zu üben. Das war der 1968 herausgebrachte VW 1600 mit Stufenheck. Den gab’s auch mit Fließheck, aber von der Schrägheck-Variaiante hatte mein Vater wohl genug und wollte endlich mal eine echte Limousine fahren, denke ich mir.

Mein erstes Auto, muss 1970 oder 1971 gewesen sein, Bingen am Rhein, Prof.-Hoepcke-Strasse, Elternhaus

Ewiges Streitthema “Lange Haare”

Meine langen Haare damals mochte mein Vater nicht so. Heute kann ich das gut verstehen. Aber damals kämpfte ich wie ein Löwe, schloss mich nachts sogar in mein Zimmer ein, um meine Haarpracht nicht durch eine nächtliche Aktion meiner Eltern zu verlieren. Sie drohten nämlich, sie mir im Schlaf abzuschneiden. Ich habe mir sogar die Haare mit dem Lockenstab glatt gezogen, da sie dann länger waren als gelockte Haare.

Wie bescheuert ich damit aussah, wollte ich damals nicht wahrhaben. Im Gegenteil, ich fand meine Haarpracht wohl cool. Dieses Wort benutzte man damals allerdings noch nicht. Da sprach man noch sauberes Deutsch. Oder eben regionale Dialekte. In Bingen spricht man rheinhessisch (rhoihessisch).

Dialoge

Meine erste journalistische Tätigkeit als Herausgeber einer Jugendzeitung 1970 dagegen fand mein Vater gut. Daran glaube ich mich zu erinnern. Er hat mir sogar bei der Recherche zu dem Artikel “An den Haaren herbeigezogen” geholfen. Damals konnte man ja nicht so wie heute ganz einfach über das Internet recherchieren. Da musste man sich im Brockhaus oder ähnlichen Nachschlagewerken Informationen suchen.

Galerie “Dialoge” ist noch nicht perfekt, scanne die Seiten der Zeitschrift demnächst neu ein … Falls es überhaupt jemanden interessiert …

 

Der verstossene Sohn

Als ich etwa 20 Jahre alt war, trennte sich mein Vater von meiner Mutter. Damals sah ich das anders als heute und hielt mehr zu meiner Mutter, den schwächeren Part meiner Eltern. Ob das ein Grund war, dass mein Vater sich seitdem von mir distanzierte und bis heute im Alter von nunmehr 90 Jahren kein Interesse an mir, seinem Sohn zeigt? Ich werde es wohl niemals erfahren.

Es macht mich traurig, wenn ich darüber nachdenke, dass ich die wichtigsten Entscheidungen meines Lebens ohne den Rat (m)eines Vaters treffen musste und er mich vor über 40 Jahren sozusagen verstossen hat. Dass er nie wieder zu mir Kontakt aufgenommen oder auf meine Briefe geantwortet hat. Dass mein Vater für mich ein wildfremder Mensch geworden ist, so wie ich für ihn auch. Ich kann noch nicht einmal heulen, wenn ich das hier heute schreibe. Vielmehr träume ich sehr oft von ihm, fast genauso oft wie von meinem treuen Hund Gianni. In den Träumen sehe ich meinen Vater natürlich noch so, wie er Anfang vierzig aussah. Ich könnte jetzt ein Bild von ihm nehmen und mit einem speziellen Programm sehen, wie er heute mit 90 Jahren aussehen könnte. Aber ich tue das natürlich nicht.

Ich könnte auch in die Bäderstadt, in der er auf dem Sonnenberg lebt, fahren und versuchen, ihn zufällig zu treffen. Nein, ich behalte ihn so in Erinnerung, wie ich ihn das letzte Mal vor mehr als 35 Jahren gesehen habe.

Bei Quora habe ich folgende Frage gestellt: “Stelle dir vor, du hast deinen Vater seit 40 Jahren nicht mehr gesehen. Du bist jetzt 66 Jahre alt und dein Vater wird morgen 90 Jahre alt. Er lebt 700 km entfernt und steht ganz klassisch im Telefonbuch. Was würdest du morgen tun?”

Hier der Link zu den Antworten, die ich bekommen habe.

Oder welche schönen Erinnerungen andere Quora-Autoren an ihren Vater haben

Nachtrag 16. Februar 2020

Nun ist ein weiteres Jahr verstrichen und ich habe täglich an meinen Vater denken müssen und hatte auch Träume über ihn. Heute ist er 91 Jahre alt geworden.

Wie er seinen Geburtstag wohl feiert? Ich weiß es nicht.

Er ist ja eigentlich nach so langer  Zeit, nach 38 Jahren ein Fremder für mich geworden, so wie ich ein Fremder für ihn wäre. Das könnte man nicht mehr aufholen. Was man da alles erzählen müsste …

Ich höre auf, hier weiter zu schreiben. Es macht mich zu traurig.

 

Update 17. September 2021

Als bei mir Ende Juli Zungenkrebs im Anfangsstadium diagnostiziert wurde und ich zwangsläufig mit meinem Tod konfrontiert war, habe ich nochmal über die Kontaktverweigerung meines Vaters zu mir nachgedacht.

“Wenn sich Eltern von ihren Kindern oder Kinder von ihren Eltern lossagen, verstößt das gegen eine Art Lebensgesetz.
Von Freunden, Geschäfts- oder Ehepartnern kann man sich trennen, aber doch nicht von Mama, Papa, Sohn oder Tochter!

Dass Vater und Mutter zu „ehren“ sind, ist schließlich seit mehreren tausend Jahren religiöses Gebot, und dass „Blut dicker ist als Wasser“, ist eine bekannte Volksphilosophie. „Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist von sehr vielen Mythen gekennzeichnet“, sagt die Wiener Psychologin Sabine Standenat.

„Da gibt es die sich ,verströmende Mutterliebe‘ auf der einen, und die ,Ehre‘, die man den Eltern schuldet, auf der anderen Seite – unabhängig davon, was eventuell vorgefallen ist. Deshalb ist ein Kontaktabbruch ein Versagen, dem sich niemand gern stellen will“, sagt die Psychologin.

… „Manchmal ist es gesünder, den Kontakt abzubrechen, als unter fortwährenden Enttäuschungen oder Lieblosigkeit zu leiden“, konstatiert die Familientherapeutin Sabine Standenat.

… Wenn sich das eigene Fleisch und Blut plötzlich entzieht, „ist das ein Verlust, wie der eines Körperteils. Der Schmerz ist unerträglich, weil das als Lebenskonzept im Gehirn nicht integriert ist. Eine hochgradige Störung des emotionalen Empfindens wird zum schmerzhaften Dauerzustand“, schildert Rita Frick, Leiterin der Selbsthilfegruppe Verlassene Eltern / Töchter / Söhne in Ebermannstadt, einer bayerischen Kleinstadt, die Erfahrungen aus der Selbsthilfegruppe. Anders als beim Tod eines nahen Menschen, der definitiv ist, bedeutet Kontaktabbruch einen Schwebezustand, in dem es Betroffene nicht schaffen, Frieden zu finden und abzuschließen. „Es bleibt immer ein Zweifel an dem, was ist. Die Hoffnung und das Grübeln zermürben“, so Frick.Zitat aus “Adieu, Kind! von Julia Schnizlein

Es ist auch erwiesen, dass der Verlust des Vaters durch Kontaktabbruch schlimmer ist, als ein Verlust durch Tod.

Ob mein Vater weiß, was er mir mit der Kontaktverweigerung angetan hat? Ob er überhaupt noch an mich denkt, so wie ich an ihn? Ich glaube nicht. Aber so langsam macht es mich auch nicht mehr traurig, sondern gleichgültig und hilft mir, über dieses für mich unverständliche Verhalten hinweg zu kommen.

Video-Galerie “Orte meine Kindheit”

 

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6 Antworten

  1. Mein Vater ist mit 62 Jahren gestorben und ich konnte mich nicht mehr mit ihm versöhnen….das belastet mich ebenfalls sehr!

    • Andi sagt:

      Bei mir ist es ja etwas anders, lieber Martin. Wir haben uns ja nie gestritten. Er scheint einfach nichts mit mir zu tun zu haben wollen, aus welchen Gründen auch immer. Und alle Kontaktversuche – schriftlich oder telefonisch – sind in den letzten 38 Jahren gescheitert. Und wenn ich es jetzt, in seinem doch sehr hohen Alter von bald 92 Jahren nochmal versuche, sieht es nach Erbschleicherei aus. Und das wäre nicht meine Intension, denn als Sohn steht mir ja die gesetzliche Erfolge zu.
      Dass du dich mit deinem Vater, offensichtlich nach einem Streit, nicht mehr versöhnen konntest, tut mir sehr leid. Aber er hätte ja auch auf dich zukommen können, denke ich. Doch jeder Fall ist anders. Da kann man sich natürlich “aus der Ferne” kein Urteil erlauben.
      Es wäre aber gut, wenn du damit abschließen könntest und dich nicht länger damit belastest.
      Liebe Grüße, Andi

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