Stümmt, viertel Zwei und sonstige Sonderbarkeiten in Ostdeutschland

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Ich als Baby 1953 im Tal der Ahnungslosen

Republikflucht

Eigentlich bin ich ja zweimal “rübergemacht”. Irgendwann zwischen 1953 und 1954 von Ost nach West als Baby, aus dem Tal der Ahnungslosen nach Gummersbach bevor es dann endgültig nach Bingen am Rhein ging.

Es muss etwas mit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zu tun gehabt haben, das meine Eltern veranlasst hat, die damals junge DDR, auch Ostzone genannt, zu verlassen. Die Mauer war zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht gebaut, aber schon damals war das Republikflucht, also strafbar, zumindest nach dem 15. September 1954 gemäß § 8 des Pass-Gesetzes der DDR (Quelle Wikipedia). Aber genauso wenig wie im Elternhaus oder in der Schule über den Krieg gesprochen wurde, erfuhren wir irgendetwas über diese “Flucht”, als wir älter wurden.

An die Zeit in Gummersbach entsinne ich mich nur an zwei Dinge.

Fast verdurstet

Ich erinnere mich noch ganz genau, dass ich in einer Nacht alleine in der Wohnung aufwachte und Durst hatte. Ich kam allerdings an keinen Wasserhahn heran. Das muss für mich der Horror gewesen sein, denn seitdem habe ich Angst zu verdursten. Das ist bis heute so. Ich habe täglich etwa 5 Liter getrunken. Erst jetzt bin ich durch meine Herzschwäche gezwungen, meine Flüssigkeitsaufnahme auf maximal 3 Liter pro Tag zu beschränken. 1,5 Liter wäre die optimale Menge, aber das schaffe ich einfach nicht. Über das Thema werde ich noch einen eigenen Blog-Artikel schreiben.

Doch zurück nach Gummersbach.

Dort wo wir als “Flüchtlinge” wohnten, ging eine Straße bergab und dort befand sich ein Lebensmittelladen. Dorthin wurde ich von meinen Eltern oft geschickt, um in einer Aluminiumkanne Milch zu holen und für meinen Vater fünf einzelne Zigaretten, seine Tagesration. Ja, Zigaretten gab es damals noch einzeln zu kaufen. Meine ersten Kontakte zum weiblichen Geschlecht habe ich auch schon dort aufgenommen.

Dann habe ich 2011 “zurück in den Osten gemacht”. Natürlich werde ich jetzt von den einheimischen Ostlern gefragt: “Wieso zieht man von Westdeutschland nach Ostdeutschland?” Stümmt. Gute Frage.

Ach ja, hier in Rostock sagt man nicht “stimmt”, sondern “stümmt”. Das ist mir als Erstes aufgefallen.

Bloß nicht beim Namen nennen

Und dass man seinen Gesprächspartner hier in Ostdeutschland meist nicht beim Namen nennt, auch nicht in Gesprächen oder Telefonaten, so wie ich es gelernt habe, den Gesprächspartner immer mal wieder beim Namen zu nennen. Nein, das macht der Ostdeutsche eher nicht. War ja zu DDR-Zeiten wahrscheinlich auch nicht notwendig, da Alle Genossen und Genossinnen waren. Oder weil man vielleicht verhindern wollte, dass
IMs (Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR)
oder Westspione oder
der ABV (Abschnittsbevollmächtigter der Volkspolizei, der als Ansprechpartner für ein bestimmtes, begrenztes (Wohn-)Gebiet diente)
irgendwelche Namensinformationen bekommt.

Der Osten tickt anders

Ja, und das mit den Uhrzeiten, daran musste ich mich auch erst gewöhnen. Ist ostdeutsch viertel Zwei nun viertel vor oder viertel nach Zwei? Eigentlich doch ganz logisch, oder? Das westdeutsche ist viel zu langatmig und umständlich.

Aber so richtig dran gewöhnt habe ich mich immer noch nicht, muss jedes Mal erst kurz nachdenken, trotz aller Logik.

Der Alkohol

Und was mir noch aufgefallen ist: In Ostdeutschland wird auffallend viel Alkohol konsumiert. Den kauft man immer noch in der “Kaufhalle” und nicht im Kaufhaus, Supermarkt oder beim Discounter.

Ich komme ja aus dem Rheinland und da ist wie bei den alten Römern früher, Wein ein Grundnahrungsmittel. Im antiken Römischen Reich wurde Wein zu jeder Tageszeit getrunken. Man mischte dem Wein Wasser zu, wie heute beim “Gespritzten”, manchmal auch Meerwasser, damit er nicht so dickflüssig und allzu stark war. Man konnte ja nicht betrunken in die Schlacht ziehen. Oder vielleicht doch?

Aber in Westdeutschland sind mir nicht soviel Alkoholkranke, Gehbehinderte – wir sagten “Tippelbrüder” dazu – wie hier im Osten Deutschlands aufgefallen. Sind das alle noch DDR-Geschädigte beziehungsweise “Kinder von Honnecker”-Geschädigte?

Ich schaue mir ja liebend gerne die alten Polizeiruf 110-Folgen, die in der DDR-Zeit produziert wurden, an. Und die Folgen direkt nach der Wende sind auch noch höchst interessant. Da kann man als “West-Flüchtling” soviel über die damalige DDR lernen und erfahren. Und in jeder Folge sieht man einen “Blauen Würger”, also Wodka oder “einen Braunen”, also Weinbrand, der aus einer Flasche in eine Kehle wechselt. Irgendwie wurde der Alkohol durch das Staatsfernsehen ja auch noch propagiert, scheint mir. Und den Grund, warum das Blut bei den Polizeiruf 110-Folgen der DDR immer orange ist anstatt dunkelrot, konnte mir bisher auch noch niemand erklären.

Eben habe ich auf MDR gerade einen Aufruf gesehen und mich vor Lachen weggeschmissen: Gesucht wird eine volle (Betonung liegt auf volle) Whisky-Flasche aus DDR-Zeiten. Ich glaube nicht, dass irgendwo noch eine volle Whisky-Flasche herumsteht. Und du? Aber wenn du eine hast, wende dich an aussenseiterspitzenreiter@mdr.de (Status Februar 2019 ).

Quelle: picture alliance / ZB/dpa-Zentralbild/Siegfried Wittenburg

Die Ungläubigen

Was mich auch wundert ist, dass in der damaligen DDR die Mehrheit der Bevölkerung aufgrund der atheistischen Bildungs- und Religionspolitik keiner Kirche angehörte und trotzdem feierten alle DDR-Bürger “fleißig” die christlichen Feiertage, speziell Weihnachten und Ostern. Zu DDR-Zeiten gab es sogar Repressionen gegenüber Gläubigen und Kirchen (Quelle: Wikipedia). Religion sei Opium fürs Volk, Karl Marx. Dieser Meinung bin ich heute – ja gerade heute – auch, wenn ich an die fanatischen und gewalttätigen Islamisten denke! Aber Religionskriege gab es ja schon seit Menschengedenken.

Auch aktuell gehört die Mehrheit der Bürger in den neuen Bundesländern keiner Kirche an, aber feiert weiterhin fleißig Weihnachten und Ostern. Das finde ich sonderbar.

Ich bin ohne mein Einverständnis 1953 protestantisch getauft, später zur Konfirmation geschickt worden und sogar auf dem Gymnasium wegen einer Benotung in Religion “Mangelhaft” sitzen geblieben. Unglaublich, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Meine Eltern hätten mich doch irgendwie davor bewahren können. Haben sie aber nicht.

2002 bin ich aus der Kirche ausgetreten, nachdem der Staat, sprich Finanzamt, den die Kirche ja damit beauftragt hat, bei mir eine Kontopfändung durchgeführt hat, weil ich meine Kirchensteuern nicht bezahlt hatte.

Der Grundsatz “Trennung von Staat und Kirche”, der eigentlich im Artikel 140 des Grundgesetzes verankert ist, wurde und wird von diesem Staat durch das Inkasso der Kirchensteuer umgangen.

 

Mein Taufbecken in Dresden 1953

Frust und Zerstörungswut in Ostdeutschland

In 34 Jahren habe ich nur zwei Autos kaufen müssen: 1984 den Mercedes 300 TD aus der W124-Serie und Anfang 2000 den E-290 TTD aus der W210-Serie, immer Diesel-Fahrzeuge.

Niemals hat jemand, als wir noch im Westen lebten, den Mercedes-Stern abgebrochen. Aber kaum lebten wir in Rostock, musste er dran glauben. Und schlimmer noch: Die Motorhaube wurde großflächig zerkratzt.

So habe ich gleich schmerzhaft mit der Zerstörungswut Ostdeutscher Bekanntschaft machen müssen. Ob es nun nur am Kiez Lütten-Klein in Rostock liegt, in dem ich jetzt wohl den Rest meines Lebens verbringen muss oder diese Zerstörungswut ein allgemeines ostdeutsches Problem ist, maße ich mir nicht an, zu beurteilen. Es fällt mir nur persönlich auf, schon bei kleinen Kindern, die alles zerstören, was ihnen in die Quere kommt.

Und Sonntags so ab 10 Uhr, zumindest ist das so hier im Kiez in Rostock so, schicken die Eltern ihre Kinder auf die Straße zum Spielen, damit sie auch in Ruhe “spielen” können, die Eltern.

Im Westen ist mir das nicht so aufgefallen, aber da habe ich ja auch nicht in einer Plattenbau-Siedlung gewohnt. Das Blöde hier ist nur, dass die Kinder direkt vor der Eingangstür oder vor den Fenstern spielen und nicht auf dem Spielplatz der Baugenossenschaft, der nur wenige Meter entfernt ist und für den alle Mieter umteilig über die Nebenkosten bezahlen.

Ostdeutsches Vokabular

Der Ostdeutsche geht oder fährt nicht jetzt zur Arbeit, sondern geht oder fährt jetze auf Arbeit. Das “A” etwas Richtung “O” ausgesprochen.

Ach ja, man pinkelt hier nicht, sondern pullert. Wenn man weint, hat man “Pipi in den Augen“. Widerlich! Stammt allerdings wahrscheinlich aus dem Buch “Bestsellerfressen” des Kölner Kabarettisten Wolfgang Nitschke aus dem Jahr 1999.

Und es heißt hier Plaste anstelle Plastik. Kaufhalle hatten wir ja schon. Das sagt man immer noch zum Supermarkt oder Discounter. Statt Grüß Gott, Servus, Hallo, Hi oder Moin hört man hier oft die niedliche Grußformel “Tachchen“.

Übrigens wird im Osten auch nicht geklaut, gestohlen, sondern “abgezweigt“. Und warum wird von Polen so viel gestohlen? Na, weil es sich reimt. Nein, das ist nicht rassistisch. Das habe ich mal bei einem Video mit dem Comedian Olaf Schubert aufgeschnappt.

Hier im Osten säuft man auch nicht. Nein, man “bewältigt einen Feiervorgang“. Und ein Grillhähnchen ist ein Broiler.

Und “Verdacht Zwodreizehn” bedeutet illegaler Grenzübertritt. Kann auch für das unerlaubte Berühren weiblicher Brüste als Vokabular angewandt werden.

Dämse” (auch Demse oder Dämmse) kommt aus dem sächsischen und mittelostdeutschen und bedeutet soviel wie unerträgliche Hitze, aber auch Schwüle oder stickige Luft. Ebenfalls aus Sachsen kommt die Redewendung “Rotz am Ärmel“. Wenn jemand nervt oder lästig ist, sagt man, dass derjenige ist oder sich benimmt wie Rotz am Ärmel.

Der (sächsische und thüringische) Ossi sagt auch nicht “heute früh”, sondern aus mir unerklärlichen Gründen “heute frühs“, vielleicht die Abkürzung für “frühmorgens”.

Der Plattenbau oder kurz “die Platte” genannt, wurde auch als “Arbeiterschließfächer” bezeichnet. Was mir aufgefallen ist, die Schlafzimmer sind nicht wie ich es kenne, nach Norden oder Westen ausgerichtet, sondern nach Osten. Vielleicht, damit die Arbeiter damals auch rechtzeitig in ihren Kollektiven und Brigaden oder die Bauern in den LPGs oder Kolchosen kamen und nach durchzechten Nächten nicht verschliefen.

Das klassische westdeutsche Jägerschnitzel heißt in Ostdeutschland auch so, besteht aber nicht aus einem Kalbs- oder Schweineschnitzel mit Pilzsoße, sondern aus einer panierten Jagdwurst mit Nudeln und Tomatensoße.

Fidschi war ein ostdeutsches Schimpfwort für für asiatische und asiatisch aussehende Menschen, insbesondere Vietnamesen. Eigentlich bezeichnet das Wort die Bewohner der Fidschi-Inseln oder die Sprache Fidschi.

Ja, und eine Volleyballspielerin nennt man hier im Osten respektvoll Ballklatscherin. Das Wort gefällt mir so richtig gut!

 

Foto: Volleyball World

Die Aktuelle Kamera

In meinem VHS-Archiv habe ich eine “Aktuelle Kamera” vom 3. Juni 1984 mit Elisabeth Süncksen gefunden.

EpicThe112 stellte folgende interessante Frage:
“Wenn die DDR noch existieren würde, wäre dann Folgendes passiert? Sie würden Soberana-2-Abdala-Covid-19 Impfstoff benutzen, gefolgt von Sputnik-5. Das Computerbetriebssystem wäre ein modifiziertes nordkoreanisches rotes Stern-Betriebssystem gewesen, das ostdeutsches Vokabular verwendet”

 

… An diesem Artikel schreibe ich weiter. Das war noch nicht alles … Es ergeben sich immer wieder neue Sonderbarkeiten …

Vielleicht interessiert dich auch mein Blog-Artikel “Mein Vater, der Professor”

Wenn du 10 Minuten Zeit und Humor hast, schau dir das Video an –>>

Links:

Trinkkultur in der DDR

Suff-Weltmeister DDR

Der Arbeitsplatz in der DDR

Wein im alten Rom

Liste von Abkürzungen in der DDR

Uhrzeit: Dreiviertel und Viertel

Nach der Wende zur Einführung der D-Mark war ich in Heiligenstadt und Bad Sooden-Allendorf

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3 Antworten

  1. Eric sagt:

    Meine Eltern sprechen bis heute bei bestimmten Geschäften vom “Fidschiladen”. Das hatte ich als Nachwendekind (Baujahr 2001) übernommen, ohne zu wissen, dass ich die Mitarbeiter*innen, die mich sicher gehört hatten, eventuell angreife.

    Übrigens: interessanter Beitrag!

  1. 20. Juni 2019

    […] u bivšem Njemačka Demokratska Republika –Uhrzeiten in der ehemaligen DDRdvanaest i četvrt je: es ist ein Viertel nach zwölf( in Ost-Deutschland sagt man “viertel […]

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